Stellungnahme des Gängeviertels: Für ein selbstverwaltetes Gängeviertel

Nach den Wogen, die Pressemitteillung um den Planungsstopp ausgelöst hat, veröffentlicht das Gängeviertel nun eine ausführliche Stellungnahme:

„Von „Donnergrollen im Gängeviertel“ bis zu „Eiszeit“ reichten die Pressereaktionen auf den Planungsstopp im Gängeviertel. Seitdem werden wir ständig gefragt: Was ist los bei euch? Kurz gesagt: Wir fühlen uns von der Stadt hintergangen. Für uns geht es jetzt und heute um die Existenz des Projektes Gängeviertel. Zur Erinnerung: Das waren zwölf historische Häuser, die längst nicht mehr da wären, hätten wir sie nicht vor fünf Jahren besetzt. Seitdem haben wir uns ehrenamtlich engagiert, um einen Ort zu schaffen, an dem gemeinschaftlich gearbeitet, gelebt, Wissen geteilt und öffentliche unkommerzielle Angebote geschaffen werden – einen Möglichkeitsraum, den die UNESCO 2012 als „Ort kultureller Vielfalt“ ausgezeichnet hat. Seit fünf Jahren ringen wir mit der Stadt um diesen Raum, um die Selbstverwaltung des Gängeviertels. Im Kern geht es darum, ob es das Gängeviertel so in Zukunft noch geben wird. Um den Konflikt nachzuvollziehen, müssen wir ein wenig ausholen:
Als wir im August 2009 im Rahmen einer „kulturellen Inbesitznahme“ das Gängeviertel besetzten und die zwölf Häuser vor Zerfall und Abriss retteten, war das für viele in Hamburg und weit über die Grenzen der Stadt hinaus ein ermutigendes Signal: Eine andere, eine bessere Stadtentwicklung schien möglich zu sein. Eine Stadtentwicklung, die sich an den Bedürfnissen der Menschen orientiert statt an Investoreninteressen. Bereits einige Monate zuvor hatte sich das Recht-auf-Stadt-Netzwerk gegründet, dem wir von Beginn an angehörten.

Seitdem ist viel passiert: Im Dezember 2009 kaufte die Stadt Hamburg (FHH) das Gängeviertel von dem Investor Hanzevast zurück. Ein Erfolg, der nur durch unsere Initiative und mit Hilfe der breiten Öffentlichkeit möglich war. Wir begannen mit den verantwortlichen Behörden über ein neues, zukunftsfähiges Konzept für das Gängeviertel zu verhandeln – mit dem gemeinsamen Ziel, dass das Gängeviertel im Besitz der Stadt bleibt und von ihr saniert wird. Für die FHH war die Stadterneuerungs- und Stadtentwicklungsgesellschaft (Steg) der einzige Sanierungsträger, der hierfür in Frage kam. Trotz unserer erheblichen Zweifel an einer Zusammenarbeit mit der Steg kamen wir der Stadt in diesem Punkt entgegen. Im September 2010 wurde mit der Stadt ein „Integriertes Entwicklungskonzept“ fertiggestellt, als Grundlage diente unser Zukunftskonzept, das wir bereits im Rahmen der „kulturellen Inbesitznahme“ vorgestellt hatten. Drei Monate später gründeten wir die Gängeviertel Genossenschaft 2010 eG, die für uns die Grundlage der von Beginn an angestrebten Selbstverwaltung schaffen sollte. Im September 2011 wurde zwischen der Stadt, dem Verein Gängeviertel e.V. und der Gängeviertel Genossenschaft 2010 eG eine Kooperationsvereinbarung getroffen. In dieser akzeptierte die FHH explizit „die Zielvorstellung und die inhaltliche Ausrichtung und Entwicklung des Gängeviertels“. Dazu zählten unabdingbar die Selbstverwaltung und die Übernahme der sanierten Gebäude durch die Genossenschaft, wobei über die Ausgestaltung der „eigentumsähnlichen“ Rahmenbedingungen noch zu entscheiden war. Ohne diese Kooperationsvereinbarung hätten wir einer Sanierung mit öffentlichen Geldern nie zugestimmt. In ihr heißt es: „Die Genossenschaft strebt an, während des Sanierungsverfahrens eine funktionsfähige Genossenschaftsverwaltung aufzubauen und Schritt für Schritt die Selbstverwaltung einzelner Flächen zu übernehmen. … Die FHH wird diese Bestrebungen fördern. Zu diesem Zweck verständigen sich Genossenschaft und FHH zeitnah auf ein geeignetes Verfahren mit dem Ziel einer Übernahme durch die Genossenschaft zum Zeitpunkt der Bezugsfertigkeit des jeweiligen Objekts. Insbesondere kommen dabei in Betracht: Abschluss eines Generalmietvertrages oder vorzeitiger Erwerb eines Erbbaurechts oder vorzeitiger Erwerb des Eigentums.“

Seit August 2009 haben wir das Viertel in ein offenes und lebendiges Zentrum für Kunst, Politik und Soziales verwandelt und stetig weiterentwickelt. Wir haben eine funktionsfähige und bereits geprüfte Genossenschaft aufgebaut, um die Verwaltung zu übernehmen. Unser Verein Gängeviertel e.V. verfolgt ausschließlich gemeinnützige Zwecke und fördert seit Anbeginn die verschiedensten kulturellen Angebote für alle Generationen. Unzählige ehrenamtliche Arbeitsstunden sind in diese Institutionen geflossen. Viele Menschen haben Genossenschaftsanteile gezeichnet, um das Projekt zu unterstützen. Dies alles ist in der Gewissheit geschehen, dass die Stadt diesen Weg mit uns gemeinsam gehen will. So hieß es auch in der Presseerklärung der FHH: „Der Senat würdigt mit dieser Vereinbarung das große Engagement derjenigen, die sich für ein lebendiges Gängeviertel einsetzen. Die genossenschaftliche Lösung wird ausdrücklich unterstützt.“

Im Jahr 2013 beginnen die Sanierungsarbeiten. Und es zeigt sich schnell, dass die Vorstellungen des Sanierungsträgers und unsere in wesentlichen Punkten auseinandergehen. Immer wieder müssen wir mitansehen, wie die Steg bei der Sanierung Standardlösungen wählt und gängige Wege beschreitet, anstatt sich an den besonderen Eigenarten und der bewahrenswerten Bausubstanz der denkmalgeschützten Häuser zu orientieren. Und so sehen wir immer wieder unseren Eindruck bestätigt, nicht ernst genommen und durch eine paternalistische Haltung zu Bittstellern degradiert zu werden.

Weil wir uns bewusst sind, dass das erste Haus bereits Anfang 2015 bezugsfertig sein wird, führen wir seit April 2014 Verhandlungen mit Behördenvertretern und der Steg mit dem Ziel, die genossenschaftliche Anbindung zu sichern und den Weg zu einer zukunftsfähigen Selbstverwaltung zu ermöglichen. Immer wieder stellen wir unmissverständlich klar, dass Gespräche auf Augenhöhe und eine Verhandlung mit den politischen Entscheidungsträgern eine notwendige Bedingung darstellen, damit die Kooperation funktionieren und weitergeführt werden kann. Doch auf der Arbeitsebene kommen wir nicht voran. So machen wir auf einer Pressekonferenz zum 5. Geburtstag des Gängeviertels im August 2014 öffentlich, wo die Probleme liegen: Wir kritisieren den mangelnden politischen Willen seitens der Stadt und warnen vor einem Scheitern der Kooperation. „Dieser von uns erschaffene Möglichkeitsraum Gängeviertel kann nur weiter existieren, wenn endlich Planungssicherheit für die Zukunft besteht, verbindliche Zusagen gemacht und konkrete Zahlen vorgelegt werden, die einen unkommerziellen und selbstverwalteten Betrieb auch in zehn Jahren noch möglich machen“, heißt es in unserer Presseerklärung.

Die Reaktion: keine. Die von uns eingeforderten und angebotenen Gespräche finden nicht statt, unsere Einladung wird abgelehnt. Zwar wird eine Verhandlungsgruppe unter Federführung der Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt (BSU) aufgestellt, um eine Grundlage zur Verwaltung der fertig sanierten Häuser durch die Gängeviertel Genossenschaft 2010 eG zu regeln. Doch der Verhandlungsprozess verläuft sehr schleppend. Gleichzeitig schreiten die Bauarbeiten weiter voran. Da wir keinen anderen Ausweg mehr sehen, fordern wir Ende September 2014 eine in der Kooperationsvereinbarung für den Konfliktfall vorgesehene Schlichtung zwischen den Vertragsparteien ein. Wieder folgt eine Absage. Uns wird stattdessen nach Monaten des Wartens ein Clearinggespräch in Aussicht gestellt. Das Versprechen, dass dieses Gespräch noch vor der Fertigstellung des Kupferdiebehauses stattfinden würde, ist nicht eingehalten worden. Erst Ende Februar, nach den Wahlen, sollte dieser so wichtige Termin anberaumt werden.
In dieser Situation haben wir, um ein weiteres deutliches politisches Signal in Richtung Stadt zu setzen, am 22. Januar 2015 eine eintägige Baustellenbesetzung durchgeführt. Nochmals weisen wir die Stadt darauf hin, dass die Mitbestimmung im bisherigen Sanierungsprozess nicht ausreichend gewährleistet ist und damit der Kooperationsvereinbarung zuwider gehandelt wurde und wird. Wir verdeutlichen, dass es für uns unerlässlich ist, eine Einigung über die politische Weichenstellung zu erzielen, die garantiert, dass das Gängeviertel auch in Zukunft als selbstverwalteter kultureller und politischer Ort bestehen kann. Und wir unterstreichen erneut, dass die politischen Entscheidungen nicht in der Zukunft, sondern jetzt getroffen werden müssen, da sonst die gemeinsamen Ziele für das Gängeviertel nicht erreicht werden können.

Da mittlerweile das „Kupferdiebehaus“ in der Caffamacherreihe bezugsfertig ist, wird die weiter bestehende politische Unklarheit zum Problem für die Genossenschaft und der Mieter*innen. Die Standardmietverträge der Steg, die diese zwei Tage vor Schlüsselübergabe individuell unterschreiben sollen, berücksichtigen nicht die Besonderheiten einer Genossenschaft als Solidargemeinschaft, obwohl das Gesetz dies ausdrücklich zulässt. Vor allem enthalten die Mietverträge Bedingungen der Hamburgischen Investitions- und Förderbank (IFB) aufgrund eines Modernisierungsvertrages zwischen der IFB und der Steg vom 7. November 2014, von dem wir erst jetzt erfahren. Dieser Vertrag regelt die Förderbedingungen sowohl inhaltlicher (z.B. Innenausstattung) als auch finanzieller Natur (z.B. Höhe der Fördermittel) und war von der Steg ohne unser Wissen geschlossen worden. Wir wurden sowohl über Inhalt als auch Existenz dieses Vertrages im Unklaren gelassen, während wir zeitgleich mit der Steg Gespräche über die Verwaltung und Ausgestaltung der Mietverträge des Viertels geführt haben.

Kurz nach der Unterzeichnung der Verträge für das „Kupferdiebehaus“ wird uns eine rechtliche Stellungnahme der BSU vorgelegt, in der eine Genossenschaftsbindung der Mietverträge aufgrund des hinter dem Rücken der Initiative abgeschlossenen Modernisierungsvertrags rechtlich ausgeschlossen wird. Dies widerspricht eindeutig der Kooperationsvereinbarung. Wir gewinnen den Eindruck: Seit November haben wir Scheinverhandlungen mit der Stadt geführt, ohne wirklich die Chance gehabt zu haben, unsere Anliegen zu verwirklichen. Eine genossenschaftliche Lösung war von der Stadt nie gewollt, geschweige denn unterstützt.

Dieses Vorgehen unserer „Partner“ hat für uns das Fass zum Überlaufen gebracht. Die Inhalte der Kooperationsvereinbarung und die Zukunft des Gängeviertels, wie wir sie uns vorstellen und wie wir sie seit fünfeinhalb Jahren lebendige Wirklichkeit haben werden lassen, sind in ihren Grundlagen gefährdet. Wir haben unseren Teil der Vereinbarung eingehalten, wir haben die Genossenschaft gegründet und aufgebaut, in dem guten Glauben, dass die Stadt die damals zugesicherte Unterstützung ernst meint.

Wir haben daraufhin die Notbremse gezogen und sind erneut mit einer Pressemitteilung an die Öffentlichkeit getreten. Gleichzeitig sind unsere Vertreter vom Vorstand des Sanierungsbeirats zurückgetreten. Unsere konsequenten Schritte wurden durch Presse und Medien breit aufgegriffen, wobei einige Missverständnisse deutlich wurden, die wir in einer weiteren Erklärung korrigierten (Weblinks dazu am Textende). Bei dem Clearinggespräch zur Vorbereitung der von uns geforderten Schlichtung, das endlich am 18. Februar mit Vertretern der Stadt stattfand, haben wir einen vorläufigen Planungsstopp für das weitere Sanierungserfahren durchsetzen können. Dabei haben wir uns dazu bereiterklärt, vorerst auf ein förmliches Schlichtungsverfahren zu verzichten. Stattdessen sollen drei Arbeitsgruppen eingerichtet werden, in denen versucht werden soll, zentrale strittige Punkte zu klären:

1. Selbstverwaltung und Genossenschaftsbindung

Für uns ist die Genossenschaftsbindung unabdingbarer Teil der Selbstverwaltung des Gängeviertels. Nur mit dem nötigen Eigenkapital können wir das Quartier selbst verwalten oder in eigentumsähnliche Verhältnisse überführen. Dieser Raum für Kunst, Kultur und Soziales basiert vor allem auf dem ehrenamtlichen Engagement der Menschen vor Ort. Das Konzept des gemeinsamen Lebens, Wohnens und Arbeitens kann nur funktionieren, wenn die Menschen, die hier einziehen, sich zu diesen Grundprinzipien bekennen und diese aktiv fördern und unterstützen. Dies wird unter anderem durch die genossenschaftliche Bindung verankert. Es geht also um mehr als darum, WER im Viertel wohnen wird – darüber entscheidet eine Belegungskommission mit Vertreter*innen der FHH und des Gängeviertels aufgrund von Bewerbungen von Menschen, die einen Wohnberechtigungsschein haben –, sondern WIE im Gängeviertel miteinander das gemeinsame Leben gestaltet wird.

2. Der Status der „Fabrique“ nach Beendigung der Sanierung

Die „Fabrique“ ist für uns das Herz des Gängeviertels und wird allen Bürger*innen offenstehen: als Möglichkeitsraum und Experimentierfeld, als Zentrum für Kunst, Kultur, Politik und Soziales. Damit es uns möglich ist, die Räume der „Fabrique“ für die Öffentlichkeit zu erhalten, kämpfen wir für eine mietfreie Lösung. Zusammen mit den Initiativen der Solidarischen Raumnahme haben wir bereits seit einiger Zeit die Kategorie der „Möglichkeitsräume“ ins Spiel gebracht: Räume, die weder als Gewerbe- noch als Wohnfläche genutzt, sondern durch einen sehr hohen Anteil an ehrenamtlicher Arbeit mit Inhalten gefüllt und betrieben werden. Schon bald wird die „Fabrique“ fertiggestellt sein, und es ist nach wie vor kein Weg in Sicht, unser soziokulturelles Konzept umzusetzen.

3. Die Zukunft des Viertels und die Eigentumsfrage

Von Beginn an haben wir ein Erbbaurecht gefordert, da wir wollten, dass das Gängeviertel im Eigentum der Stadt verbleibt. Wir sind gegen Privatisierung und gegen Spekulation mit Immobilien. Wir finden es richtig, dass die Stadt sich um öffentliches Eigentum sowie um Bildung und Kultur kümmert. Da unser Vertrauen, die Zukunft des Gängeviertels auch ohne förmlichen Eigentumstitel in Selbstverwaltung gestalten zu können, inzwischen grundlegend erschüttert wurde, werden wir nun auch andere Optionen prüfen müssen. Denkbar wären zum Beispiel ein Kauf durch die Genossenschaft oder die Überführung in eine Stiftung. Viele Modelle sind denkbar, nun wollen wir uns an die Arbeit machen, diese zu planen und umzusetzen.

Das Gängeviertel ist ein Ort, der von Tausenden Gästen aus aller Welt gerne besucht wird. Einer, der selbst im Staub der Baustellen noch funkelt. Wir freuen uns, erreicht zu haben, dass das erste Haus saniert und gerettet wurde und günstiger Wohnraum entstanden ist, der in Hamburg dringend gebraucht wird.

In einem Gängeviertel, das in Zukunft von der Steg verwaltet wird, wird jedoch alles Potential veröden, das in diesem Viertel wohnt. Die Selbstverwaltung, ermöglicht durch die Genossenschaft, ist eine notwendige Bedingung für das Gelingen der Vision Gängeviertel. Wir werden für diese Vision kämpfen und alles dafür tun, damit das Gängeviertel ein Ort für Kultur, Politik und Austausch bleibt. Wir haben mit der Stadt kooperiert, und wir hoffen immer noch, dass dies kein Fehler war und wir gemeinsam zu Lösungen kommen können. Doch wie auch immer die Lösung genau aussieht: Für uns besteht sie in mehr Genossenschaft, nicht in weniger. Also:

Kommt in die Gänge! Kommt in die Genossenschaft! Helft uns, ein selbstverwaltetes Gängeviertel möglich zu machen!

Mehr: gaengeviertel-eg.de

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