Die Frage nach dem gesellschaftlichen Zusammenhalt stellt sich immer dann, wenn er gefährdet scheint. Aber ist er das wirklich? Dem geht Klaus Irler im einleitenden Artikel der neuen Ausgabe des stadtkultur magazins zum Thema „Gesellschaftlicher Zusammenhalt durch Kultur“ nach. Im Laufe dieser Woche wird STADTKULTUR HAMBURG mehrere Artikel des Heftes vorab veröffentlichen, das am 17. Juni 2019 online und in der gedruckten Aufgabe erscheint.
Autor: Klaus Irler
Der Befund von Ariadne von Schirach ist düster. „Die Gesellschaft“, sagte die Autorin und Philosophin der taz, „hat immer größere Schwierigkeiten, (…) Verantwortung für die Zukunft zu übernehmen – das betrifft die Erderwärmung ebenso wie den Umgang mit Geflüchteten oder mangelnde Kitaplätze. Diese Auflösung des sozialen Zusammenhalts hat bedenkliche Folgen: Leute beginnen, sich in Privatwelten zu flüchten, sich über Abgrenzung zu definieren, was nur ein anderer Ausdruck ist für die idiotische Wiederkehr von Populismus und Nationalismus.“
Mit ihrer Einschätzung ist Ariadne von Schirach keineswegs allein. Auch die Arena Analyse 2018, bei der das Beratungsunternehmen Kovar & Partners in Zusammenarbeit mit der ZEIT und dem STANDARD über 50 Expert*innen befragte, kommt zu dem Ergebnis, dass das gesellschaftliche Gefüge Risse bekommen habe, „die immer größer werden“.
Wie von Schirach befürchten die Arena-Experten den Zerfall der Gesellschaft in „Teilgruppen, die nichts mehr miteinander zu tun haben wollen“.
Die Gründe hierfür sind zahlreich, aber oft ist es die Migration, die als eine der Hauptursachen ausgemacht wird. Das mag an einem Doppeleffekt liegen: Die Migration führt zu einer Diversifizierung der Gesellschaft und hierzulande leider zugleich zu einer Abgrenzung und Radikalisierung all jener, die Angst vor Migranten haben. Die politischen Gräben vertiefen sich. An die Stelle von Reibung, die Wärme erzeugt, treten Diffamierung und Hass.
Hinzu kommt die Schere zwischen arm und reich, die immer weiter auseinander geht.
Nicht nur der Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, Manfred Rekowski, sieht in anhaltender Armut „eine echte Bedrohung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt“. Als Pfarrer in Wuppertal habe er erlebt, dass Armut Menschen von der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ausgrenze, sagt Rekowski. Als besorgniserregend empfinde er zudem, dass Armut vererbt werde. Kinder aus betroffenen Familien seien vom Beginn ihres Lebens an abgehängt. „Da nehmen nicht nur die einzelne Familie und das einzelne Kind Schaden, sondern auch unsere Gesellschaft.“
Gleichzeitig steigen die Gehälter der Dax-Chefs in astronomische Höhen und es folgt eine Enthüllungsgeschichte über Steuerbetrug auf die nächste: nach den Luxemburg-Leaks kamen die Swiss-Leaks, die Football-Leaks und die Panama Papers.
Dabei wird der Reichtum der Einen zum Problem der Anderen: Große Teile der Bevölkerung können die Mieten in den Großstädten nicht mehr bezahlen. Der Ruf nach Enteignung wird laut. Regelmäßige Mietendemos zeigen: Das Problem verschwindet nicht von selbst. Es gärt.
Ist der gesellschaftliche Zusammenhalt also dabei, sich aufzulösen? Hat er sich schon aufgelöst? Die Studien zum gesellschaftlichen Zusammenhalt der Bertelsmann und der Robert Bosch Stiftung kommen beide zu einem erstaunlichen Ergebnis:
Der gesellschaftliche Zusammenhalt ist deutlich besser als sein Ruf.
Die Bertelsmann Stiftung ließ zuletzt 2017 eine repräsentative Befragung von 5.041 Menschen durchführen. Gesellschaftlicher Zusammenhalt wurde dabei als mehrdimensionales Phänomen verstanden, das sich aus neun unterschiedlichen Dimensionen zusammensetzt: soziales Netz, Vertrauen in Mitmenschen, Akzeptanz von Vielfalt, Identifikation, Institutionenvertrauen, Gerechtigkeitsempfinden, Hilfsbereitschaft, Anerkennung sozialer Regeln und gesellschaftliche Teilhabe.
Dabei zeigte sich: Bundesweit akzeptieren die Menschen gesellschaftliche Vielfalt in einem hohen Maß. Der Indexwert liegt hier bei 79 Punkten, das ist der höchste Wert aller Teildimensionen. Deutlich schlechtere Werte ermittelt die Studie in der Dimension Gerechtigkeitsempfinden: Nur ein sehr kleiner Teil der Befragten ist der Meinung, dass es bei der Verteilung wirtschaftlicher Güter gerecht zugeht.
In Hamburg, so das Ergebnis der Studie, ist die Akzeptanz von Vielfalt besonders ausgeprägt. Hamburg liegt in dieser Kategorie bundesweit an zweiter Stelle hinter Bremen.
Studie der Bertelsmann Stiftung: „Radar gesellschaftlicher Zusammenhalt“
Auch das Vielfaltsbarometer der Robert Bosch Stiftung kommt zu einem erfreulichen Ergebnis. Die Macher der Studie begreifen die Akzeptanz von Vielfalt als zentralen Faktor für gesellschaftlichen Zusammenhalt. Deutschlandweit wurden 3.025 Personen zu ihrer Meinung über gesellschaftliche Gruppen befragt. Demnach stehen die Deutschen Menschen mit Behinderung (83 Punkte) und nicht-heterosexueller Orientierung (77 Punkte), aber auch Menschen mit anderer ethnischer Herkunft (73 Punkte) sehr offen gegenüber. Auch bei Menschen eines anderen Lebensalters (70 Punkte) oder eines anderen Geschlechts (69 Punkte) ist die Akzeptanz hoch. Die größten Vorbehalte gibt es gegenüber sozioökonomisch Schwachen (58 Punkte) und gegenüber Religion und religiöser Vielfalt (44 Punkte).
„Um den Zusammenhalt zu stärken, kommt es darauf an, soziale Ungleichheit zu verringern und Armut zu verhindern“, sagt Kai Unzicker, Experte für gesellschaftlichen Zusammenhalt bei der Bertelsmann Stiftung.
Vor allem auf lokaler Ebene sollten zusätzlich Maßnahmen ergriffen werden, die inklusive Teilhabe und Kontakt zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen ermöglichen.
Kai Unzicker, Bertelsmann Stiftung
Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt die Politikwissenschaftlerin Nicole Deitelhoff, die gerade in Frankfurt ein „Institut für gesellschaftlichen Zusammenhalt“ mit aufbaut. Für Deitelhoff ist ein Schlüssel für den gesellschaftlichen Zusammenhalt der „produktive Streit“.
Als ein „großes Problem“ sieht Deitelhoff den Mangel an Orten und Formaten für produktives Streiten. „Wir müssen niedrigschwellige Angebote schaffen, dass Menschen überhaupt wieder miteinander in Berührung kommen“, sagte sie der Süddeutschen Zeitung. Gelingen kann das „beispielsweise durch eine großzügige Subventionierung von Kulturanstalten und eine Stärkung der politischen Bildung, ganz konkret der Konfliktfähigkeit.“
Das stadtkultur magazin Nr. 47: Gesellschaftlicher Zusammenhalt durch Kultur
Beispiele für Orte und Formate, die Begegnungen ermöglichen, finden sich im stadtkultur magazin zum Thema „Gesellschaftlicher Zusammenhalt durch Kultur“ einige: Das Kulturschloss Wandsbek veranstaltet alljährlich das Konzert für Toleranz, im Goldbekhaus trifft sich beim Projekt „Songs from Home“ ein Chor aus Frauen mit und ohne Fluchthintergrund, das Bürgerhaus Barmbek lädt ein zum KulturenBrunch und im Bürgerhaus Wilhelmsburg treffen sich Jung und Alt beim Projekt Konfetti Plus.
Die künstlerische Produktion auf transnationaler Basis hat sich der Hajusom e.V. vorgenommen und der Communitysender TIDE gibt Themen eine Plattform, die sonst in den Medien (fast) nicht vorkommen. Für Menschen mit Behinderung ist der Hamburger Kulturschlüssel eine Möglichkeit der Teilhabe am kulturellen und gesellschaftlichen Leben. Eine tiefgreifende Vision einer inklusiven Gesellschaft und einige Ideen für deren Verwirklichung hat der Grenzen sind relativ e.V.
Für die Teilhabe an Kultur und Bildung von Kindern aus schwierigen Verhältnissen engagieren sich das KIKU und der KulturKlub. Für ein Miteinander auf Augenhöhe aus globaler Perspektive arbeitet die W3 – und das seit 40 Jahren.
Die GWA St. Pauli sieht im Gedenken an Semra Ertan eine Chance, einer Gesellschaft der Vielen näher zu kommen. Und die Zinnschmelze untersucht die rechtliche Basis, auf der das Zusammenleben in Deutschland steht, nämlich das Grundgesetz, das dieses Jahr 70 Jahre alt wird.
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